Ein Ausdruck, den vermutlich alle Pferdemenschen kennen. “Der testet dich.” Mir ist dieser Ausdruck immer schon sauer aufgestoßen, denn allein die Idee, dass ein Pferd ausprobieren würde, wie weit es gehen kann, ist komisch. Auch, dass ein Pferd versucht, meine Autorität in Frage zu stellen, bloß um mich und meine “Grenzen auszutesten”, wie in einem inszenierten Machtkampf, in dem es ums Ego geht – nein.
Es handelt sich um ein Missverständnis. Der Grund, warum so viele Leute diesen Ausdruck wählen, ist weil es sich tatsächlich oft so anfühlt, als würden Pferde das tun. Uns testen. Denn es ist nicht immer einfach, ein so großes Flucht- und Herdentier dazu zu bekommen, sich einem anzuschließen und ihm widernatürliche Dinge zu tun, nur um uns zufrieden zu stellen. Es kann grenzwertig werden, unbequem, gefährlich und nervig. Es kann sein, dass das Pferd immer und immer wieder in Frage stellt, was wir vorgeben. Tatsächlich ist das auch eine Formulierung, die ich oft benutze, wenn ich Menschen das Verhalten ihres Pferdes erkläre, was sich widersetzt oder zögert: “Dein Pferd fragt dich immer wieder, ob das wirklich so okay ist.” Infragestellung ist eine ganz andere Energie als Grenzenaustestung. Es hat eine andere Motivation. Warum stellen Pferde Fragen an ihre Menschen im Umgang?
Die Antwort darauf ist vielfältig. Meistens aber ist es eine Mischung aus unterschiedlichen Faktoren, wovon der größte abhängig davon ist, wie viel Präsenz jemand ausstrahlt. Mit Präsenz meine ich nicht das aufgesetzte oder nicht aufgesetzte, dominante Verhalten eines “Alphamenschen”, sondern damit ist die tatsächliche Anwesenheit gemeint. Ein Pferd findet es wichtig, dass wir nicht nur körperlich anwesend sind, sondern auch geistig. Beides, die körperliche und die geistige Präsenz, fließt ineinander über. Die körperliche Anwesenheit an sich kann schon sehr vielfältig sein. Bist du gestresst und bewegst dich deshalb fahrig, mit verkrampfter Mimik, hochgezogenen Schultern und hohem Blutdruck? Oder riechst du bewusst den Duft des Waldes, wenn ihr spazieren geht, entspannst deine Nackenmuskulatur, spürst den weichen Waldboden bei jedem Schritt mit deinen Füßen, schaust in die Bäume oder die Ferne und entspannst deinen Rumpf beim Atmen? Die mentale Präsenz ist noch variabler. Was denkst du? Bist du in der Vergangenheit, der Gegenwart, der Zukunft verhaftet? Denkst du in Problemen oder in Lösungen? Bist du mutig oder ängstlich? Bist du glücklich, freudig und dankbar, während du mit deinem Pferd zusammen bist? Kannst du den Moment wahrnehmen – die Geräusche eurer Schritte, die Natur und wie sie sich zeigt um euch herum, das Licht und das Wetter, die Verbindung zu deinem Pferd und wie es jetzt gerade auf dich wirkt? Achtest du überhaupt darauf, was dein Pferd tut oder spulst du die Handlungsschritte eures Miteinanders bloß ab, weil du gedanklich schon beim Abendessen bist?
Das und noch mehr beeinflusst alles deine Präsenz. Wenn diese Präsenz nicht jene ist, die dein Pferd von dir braucht, um euer Miteinander zu genießen und aus seiner Komfortzone zu gehen, um mit dir zusammen zu sein, dann muss es dir Fragen stellen: “Bist du dir sicher, dass du spazieren gehen willst? Du bist doch total erschöpft.” – “Wieso fühlt sich dein Körper so spannig und schmerzhaft an, wenn du auf mir sitzt? Meinst du wirklich, du solltest reiten?” – “Schau mal, da hinten. Ist das gefährlich?” – “Können wir jetzt bitte mal so richtig nach Hause rennen? Ich merke doch, dass du keine Zeit hast.” – “Weißt du echt, wo es langgeht? Du achtest doch kaum auf den Weg, wenn wir gehen. Das mache ich lieber mal für uns, ich helfe dir gern.” und so weiter.
Je mehr Fragen dein Pferd hat, wenn du nicht konsequent die Energie von “Alles ist gut. Ich bin hier und jetzt anwesend und weiß, was ich tue. Ich dehne mein Energiefeld aus, nehme meinen Raum ein, verbinde mich mit dir und wertschätze den Moment. Du kannst mir trauen und mir folgen. Ich nehme mich selbst wahr. Ich passe auf uns auf.” ausstrahlst, umso mehr kann es sich anfühlen, als würde es deine Grenzen austesten. Doch das stimmt nicht. Es zeigt dir bloß, wie es dich wahrnimmt und handelt dementsprechend. Je weniger deine und seine Präsenz zusammenpassen, umso deutlicher wird es, aus reinem Selbstschutz. Immer und immer wieder, bis du es checkst und etwas änderst. Oder bis du es einnordest, wenn es der Typ ist, der das zulässt. Entscheidest du dich für Zweiteres, dann wird es dir bald keine Fragen mehr stellen. Es wird abschalten, so wie die allermeisten Pferde, und ausführen, was du willst. In den Augen der ganzen Hardcore-Trainer hast du es dann geschafft. In den Augen deines Pferdes aber kannst du dann sehen, was Enttäuschung ist.
Wenn du es nicht schaffst, die richtigen Antworten auf die Fragen deines Pferdes zu haben, dann ist der Weg nicht, dein Pferd zu manipulieren, damit es keine mehr stellt, sondern bei dir selbst hinzuschauen. Was ist bei dir los, dass dein Pferd dich so wahrnimmt? Mache lieber einen Schritt zurück und verbringe Zeit mit deinem Pferd, in der du nichts von ihm willst. Nimm an, was es dir zeigt und gehe in die Verbindung. Pferde sind liebevolle, soziale Wesen, die mit dir in Beziehung gehen. Dein Pferd möchte dein Freund sein, das bestätigt sich ausnahmslos in allen Pferdegesprächen. Und das war es doch, was du eigentlich wolltest, oder nicht? Es liegt an dir, ihm zuzuhören.
(Buchveröffentlichung “Freundschaft mit Pferden” Juni 2022 im Kosmos Verlag. Hier geht es zur Pferdeflüsterer Ausbildung)